Herr Schurte, würden Sie heute wieder eine Lehre machen oder doch ans Gymi?
Nein. Sofort eine Lehre.
Wieso?
Obwohl ich ein sehr schönes Zuhause hatte, wollte ich so schnell wie möglich selbstständig leben. Ich wollte nicht mehr von Mamas und Papas Portemonnaie abhängig sein. Dieses Ziel habe ich direkt nach dem Lehrabschluss erreicht, weil ich per 1. August von zu Hause auszog. Wäre ich ins Gymnasium gegangen, wäre ich auch noch während des Studiums von den Eltern abhängig gewesen.
Wie geht es nun bei den eigenen Kindern? Haben sie die gleiche Einstellung wie der Vater?
Ich habe drei Kinder und drei Varianten. Der Älteste ging aufs Gymnasium und studiert nun in Basel. Die mittlere Tochter ist zwar ebenfalls am Gymi, hat aber immer ein Auge auf die Lehre. Bei ihr wird es vielleicht eine Way-up-Lehre, also eine verkürzte Lehre nach der Matura. Und der jüngste Sohn ist sich gleich sicher wie ich. Er ist ein Macher und will in die Lehre.
Dann war die Entscheidung pro oder kontra Lehre auch immer eine Frage des Typs?
Ja, natürlich.
Ich frage deshalb, weil sich immer weniger Jugendliche für eine Lehre entscheiden. Da scheint die Entscheidung oft weniger eine Frage des Typs zu sein als vielmehr eine Frage der gesellschaftlichen Anerkennung.
Ich glaube, das hier beides hineinspielt. Insgesamt hat sich der Wirtschaftsstandort Liechtenstein ständig nach vorne entwickelt. Der Standard geht ständig nach oben. Da kann im Elternhaus der Wunsch aufkommen, dass es die Kinder vermeintlich besser machen sollen als die Eltern. Dazu kommt die Vorstellung, dass je mehr man lernt, desto mehr man später verdienen wird. Das stimmt allerdings nicht in jedem Fall.
Wie kommt es zu diesen Vorstellungen? Meiner Meinung nach hat das oft mit Unwissenheit zu tun. Als ich nach der Lehre mein Studium als Chemieingenieur beendet hatte, verdiente ich weniger als ein Freund von mir, der eine Zimmermannlehre machte und sich anschliessend zum Zimmermeister weiterbildet. Nur möglichst viel zu lernen ist keine Garantie für ein gutes Gehalt und Sicherheit. Das zeigt auch die Arbeitslosenstatistik.
Inwiefern?
Schauen Sie sich die Statistiken von Ländern wie Spanien oder Griechenland an. Am meisten betroffen von der Arbeitslosigkeit sind die Akademiker. Das Sprichwort «Handwerk hat goldenen Boden» hat nach wie vor seine Gültigkeit.
Trotzdem ist der Ruf des Handwerks nicht der beste.
Viele glauben, dass man auf handwerklichen Berufen keinen Hirnschmalz braucht. Das ist absolut falsch. Früher konnte man davon leben, indem man einfach Dachstühle zimmerte. Die Zeiten sind längst vorbei. Heute muss ein Zimmermann viel flexibler sein, mit neuen Maschinen, Möglichkeiten und Problemstellungen zurechtkommen. Das gilt im Übrigen für alle handwerklichen Branchen.
Trotzdem gehen immer mehr ins Gymnasium.
Das ist richtig. Deshalb braucht es meiner Meinung nach eine fixe Quote an gymnasialen Maturanden.
Das dürfte nicht reichen, wurden doch seit Beginn der Bildungsstatistik 2006 noch nie so wenig Lehrbetriebe wie heute gezählt. Damals waren es 389, 2018 waren es gerade noch 282 Lehrbe- triebe. Wo bringen wir die Lehrlinge unter?
Das stimmt zwar, ist aber auf den zweiten Blick nicht ganz so dramatisch, wie es scheint. Früher hab es mehr Kleinbetriebe, die Lehrlinge hatten. Dazu kommen einige Betriebe, die zwar eine Bildungserlaubnis haben, aber aus unterschiedlichen Gründen keine Lehrlinge mehr ausbilden. Dazu kommt, dass es immer mehr Firmen gibt, die ihre Lehrstellen nicht mehr besetzen können. Als wir 2006 das Brückenjahr einführten, nahm die Zahl an unbesetzten Lehrlingsstellen drastisch zu. Betrachtet man aber die grossen Arbeitnehmer, so haben die seit 2006 praktisch alle die Anzahl an Lehrlingsplätzen ausgebaut. Dazu kamen wir mit 100pro! – statt 70 einzelnen Unternehmen sind nun nur noch wir in der Statistik aufgeführt. Die Lehrstellen haben also nicht markant abgenommen, sondern wurden nur verlagert.
Dann ist die Lage also gar nicht so schlimm, wie es die Zahlen vermuten lassen?
Doch, in den einzelnen Branchen schon. Früher gab es Betriebe in Liechtenstein, die für die Lehre als Haustechniker aus einer Vielzahl von Bewerbungen aussuchen konnten. Heute bringt man kaum mehr alle Stellen zu besetzen. Das ist ein Beispiel eines Be- rufes, bei dem man noch dreckige Hände kriegt. Dafür finden sich kaum mehr Leute. Das hängt auch mit der demografischen Entwicklung zusammen.
Inwiefern?
Wir haben viel mehr Lehrstellen als potenzielle Lehrlinge. Gleichzeitig haben wir immer weniger Schüler. Das bedeutet, dass immer mehr Schüler in die «hübschen» Berufe können. Ergo bleiben dem Handwerk weniger Lehrlinge als vor zehn Jahren. Das ist keine gute Entwicklung.
Auch nicht für die Jugendlichen. Absolut. Die Folge der demografischen Entwicklung war, dass Betriebe Kompromisse eingingen und teilweise Lehrlinge aufnahmen, die nicht für den Job geeignet waren. Das führte zu zahlreichen Lehrabbrüchen. Solche Notbesetzungen funktionieren nicht. Das haben wir auch bei unserem Erasmusprojekt «Gelingungsfaktoren der Berufsbildung» festgestellt, welches im August vorgestellt wird.
Welche Schlüsse ziehen Sie daraus?
Das Handwerk muss sich der neuen Situation stellen und extrem viel unternehmen, damit es erfolgreich sein kann. Das beginnt bei der Bewerbung der Lehrberufe oder dem Umgang mit anderen Kulturen. Wie bringt man Kaderleuten die Lehre näher und macht sie auf die Vorteile der Lehre aufmerksam? Das sind nur zwei Massnahmen von einem ganzen Strauss, welche wir angehen müssen.
Gehört dazu auch die Verbundsausbildung «100pro»?
Auch wir sind ein Teil, ganz klar. Es kommen Leute zu unseren Infoveranstaltungen, weil sie wissen, dass wir gute Lehrplätze anbieten. Manchmal erfahren sie dort auch von Lehrstellen, von denen sie gar nichts wussten. Das ist unser Erfolgsgeheimnis. Wir haben auf den Markt gehört und der Markt auf uns.
Wie viele Lehrlinge betreuen Sie derzeit? Ungefähr 170. Damit sind wir mit unseren Personalressourcen am Anschlag.
Reden wir über Geld: Vor einigen Jahren veröffentlichte ein Schweizer Professor seine Studie «Beschäftigungs- und Lohnperspektiven nach einer Berufslehre». Darin hielt er fest, dass die Achillesferse der Lehre die flache Lohnkurve über die Lehre hinaus sei. Dies schmälere die Anziehungskraft der Berufsbildung.
Da kann ich ihm teilweise zustimmen.
Wieso nur teilweise? Wenn man nach der Matura langfristig mehr verdient, dann ist das doch attraktiver?
Das mag sein, doch es kommt auf den Beruf an. Es gibt Berufe, bei denen man trotz langjähriger Erfahrung und zahlreicher Fortbildungen kaum über das Lohnminimum hinauskommt. Das schmälert die Attraktivität, ganz klar. Ausserdem wird mit so tiefen Löhnen die Schwarzarbeit gefördert. Das trifft aber beispielsweise für das Bauhaupt- und das Baunebengewerbe meiner Ansicht nicht in diesem Mass zu.
Weshalb?
Wenn einer nach einer Lehre nichts mehr in seine Entwicklung investiert, dann unterschreibe ich das Fazit des Professors. Dieser wird sich längerfristig nicht gross nach oben bewegen. Wenn aber einer an sich arbeitet, vielleicht eine Höhere Fachschule besucht oder eine Vorarbeiterschule, dann kann man sich zu sehr schönen Löhnen hocharbeiten.
Blicken wir noch etwas nach vorne: Wir haben nur über den Fachkräftemangel und die mangelnde Attraktivität, gerade für handwerkliche Berufe, gesprochen. Glauben Sie, dass wir die Talsohle nun erreicht haben?
Lassen Sie mich zuerst etwas sagen: Ich hoffe, dass sich der Fachkräftemangel noch massiv verschärft. Das würde nämlich bedeuten, dass unsere Wirtschaft weiter wächst. Die demografische Entwicklung hingegen läuft in eine andere Richtung. Wir werden nicht mehr genügend eigene Leute für all die offenen Stellen finden. Schauen Sie nur mal heute, wie viele offene Lehrstellen und Stellen es derzeit in Liechtenstein gibt.
Dann brauchen wir mehr Einwanderer.
Das dürfte ein möglicher Weg sein.