Ohne Schnuppern harzt der Lehrbeginn

Boden-Parkettlegerin, Bekleidungsgestalter, Informatikerin: Die Berufe sind so unterschiedlich wie die Jugendlichen selbst. Rund 40 Lernende aus der Ostschweiz erzählen auf der Internetseite des Vereins Triebwerk in kurzen Videos von ihren Berufslehren. Von Jobsuche, Bewerbung und Alltag im Betrieb. Geschäftsführerin Priska Ziegler schweben insgesamt 65 Videos vor – eines für jeden Lehrberuf, in die der Verein sonst Einblicke gibt. Über ein Crowdfunding auf der Plattform lokalhelden.ch sammelt Triebwerk bis Ende Juni Geld für das Projekt – für Kommunikation und Mitarbeitende. Hintergrund ist die Coronakrise. «Sie stellt Oberstufenschüler im Berufswahlprozess vor eine schwierige Situation», sagt Ziegler. Vor der Krise sind über den Verein regelmässig Lernende aus der ganzen Ostschweiz an Schulen gegangen. In kleinen Gruppen konnten Schüler ihnen Fragen stellen. «Das fällt seit dem 16. März weg», sagt Ziegler. Schnupperlehren seien ausgefallen, ebenso Bewerbungsgespräche, im August wird die Ostschweizer Bildungsausstellung OBA ausfallen. «Es gibt viele Jugendliche in der Ostschweiz, die in den letzten Wochen wenige oder gar keine Lehrberufe kennenlernen konnten.» Dessen ist sich der Kanton bewusst. Ende April richtete sich das Bildungsdepartement mit einem Appell an Lehrer und Lehrbetriebe: Schülerinnen und Schüler sollten von ihren Lehrpersonen zum Schnuppern ermutigt werden, sobald es wieder möglich ist. Und Lehrbetriebe sollten, «wenn immer machbar», Schnuppertage anbieten, und die Durchführung in einem Schutzkonzept berücksichtigen. «Den Jugendlichen der zweiten Oberstufenklasse sollte Zeit gelassen werden», schrieb das Departement weiter. «Sowohl für die Schnupperphase als auch bis zum Lehrvertragsabschluss.» Schnuppern sollte auch in den Sommerferien und darüber hinaus möglich sein und der Abschluss eines Lehrvertrags bis im späten Herbst.

Wie viele Jugendliche noch auf Lehrstellensuche sind, kann Bruno Müller, Leiter Amt für Berufsbildung Kanton St.Gallen, nicht sagen. Bekannt ist: Mitte Mai waren 250 Lehrverträge weniger abgeschlossen worden als zum Vorjahreszeitpunkt. Bereits Ende Mai waren es noch 60 weniger als im Vorjahr, insgesamt 4454. In den meisten Branchen gibt es aktuell noch unbesetzte Lehrstellen, insgesamt 1600. Die Lage bewegt sich gemäss Müller «in einem recht normalen Rahmen».Auch schweizweit geht der Trend aufwärts, wie Umfragen bei Lehrbetrieben zeigen, welche die ETH in der Coronakrise durchführt. Waren im April noch 77 Prozent der Lehrstellen ab August besetzt, sind es im Mai bereits 81 Prozent gewesen. Betreffend Übertritt in den Arbeitsmarkt meldeten die Lehrbetriebe im Mai, dass sie vermutlich 18 Prozent weniger Lehrabgänger beschäftigen können, als sie dies normalerweise tun würden. Im April waren es noch 25 Prozent weniger gewesen. Im Kanton St.Gallen seien die Auswirkungen der Coronakrise hauptsächlich bei den vermehrten Anfragen von Betrieben zu Themen wie der Schnupperlehre zu spüren sowie bei einer «gewissen Zurückhaltung» bei Lehrbetrieben in Branchen, die besonders von der Pandemie betroffen sind, sagt Müller. Noch etwas beobachtet er: mehr Anmeldungen bei den Brückenangeboten. «Eine logische Konsequenz, wenn Schnupperlehren nicht möglich sind.» Jigme Shitsetsang nimmt den Anstieg um 20 Prozent mit Besorgnis zur Kenntnis. Der FDP-Kantonsrat hat jüngst eine Einfache Anfrage zur «angespannten Lehrstellensituation aufgrund der Corona-Pandemie» eingereicht. Shitsetsang möchte wissen, welche Massnahmen der Kanton plant. Das Brückenangebot sei keine ideale Alternative, um fehlende Lehrstellen zu kompensieren. Es sei primär für Schulabgänger mit schulischen Defiziten vorgesehen oder für die Vorbereitung der Berufswahl geeignet. Politiker der SP fordern in einem Vorstoss Antworten zu ähnlichen Fragen. Ihnen geht es um die Auswirkungen der Coronapandemie auf Lehrstellensuche und Jugendarbeitslosigkeit. Amtsleiter Müller geht davon aus, dass die Anmeldezahlen für Brückenangebote abnehmen werden, «da die Jugendlichen aufgefordert sind, eine Lehrstelle zu suchen». Priska Ziegler ist überzeugt, wie er auf Anfrage sagt: «Die Lage für Lernende bleibt schwierig. Wir steuern auf eine Rezession zu.» Und einige Betriebe seien weiterhin im Homeoffice. Ihr Verein macht sich deshalb für digitale Schnupperlehren und Bewerbungsgespräche stark. Auch Bruno Müller sagt, «eine gewisse Angst vor einer Rezession» sei da. Sollte eine Konkurswelle auf den Kanton zukommen, würden das auch die Lernenden spüren. Doch es gebe keinen Anlass, mit Panik in die Zukunft zu blicken.

Eine Studie der Universitäten Bern und Zürich kommt zum Ergebnis, dass die Coronakrise in der Berufsbildung erst im Jahr 2025 ausgestanden sein wird. Im Vergleich zu einer Welt ohne Coronavirus werden in den nächsten fünf Jahren total 5000 bis 20 000 weniger Lehrverträge abgeschlossen. Stefan Wolter, Mitautor der Studie und Professor in Bern, sagte dieser Zeitung: «Schulisch schwache Schüler riskieren, mehrere Jahre  in Zwischenlösungen steckenzubleiben.»