Mögliche Negativeffekte der Coronapandemie auf die Besetzung von Lehrstellen sind ein gegenwärtig viel diskutiertes Thema. Zuvorderst bei den direkt Betroffenen, den künftigen Lernenden sowie deren Eltern, die sich um die Perspektiven und Chancen ihres Nachwuchses sorgen. Aber auch aufseiten der Wirtschaft und der zuständigen staatlichen Behörden, die im Wissen um die bestehenden Ängste gefordert sind, diesen mit Argumenten, Lösungen und glaubhaftem Optimismus entgegenzutreten.
Und das tun sie auch. «Ich habe mir die Thematik erst vor zwei Wochen gemeinsam mit der AGIL (Arbeitsgruppe Industrielehre, Anm. d. Red.) angeschaut», berichtet beispielsweise Brigitte Haas, Geschäftsführerin der Liechtensteinischen Handelskammer (LIHK). «Dabei habe ich die Rückmeldung erhalten, dass Corona kaum Auswirkungen auf die Situation der Lernenden haben wird. Sie werden genau im gleichen Masse eingestellt wie vor der Pandemie.»
Die Lehrstellen mit Start Sommer 2020 waren zu ganz grossen Teilen ohnehin schon vor Ausbruch der Krise besetzt, wie Ivan Schurte von «100pro!», dem Berufsbildungsprogramm der Wirtschaftskammer, erklärt. «Für diese Rekrutierungen waren die ab März ergriffenen Covid-19- Massnahmen nicht so schlimm.» Werner Kranz, Leiter des Amts für Berufsbildung und Berufsberatung (ABB) bestätigt das mit Verweis auf eine kürzlich durchgeführte Umfrage: «Sie zeigt, dass von den diesjährigen insgesamt rund 300 Schulabgängern – Oberschulen, Realschulen, 10. Schuljahr und Formatio – bereits 97 Prozent eine für sie geeignete Anschlusslösung im Rahmen ihrer Berufswahl auf Sommer 2020 gefunden haben.» Dabei hätten sich analog zu den Vorjahren gut zwei Drittel für den dualen Bildungsweg entschieden. Aber auch die wenigen Schulabgänger, die auf der Suche nach einer Lehrstelle für 2020 noch nicht fündig geworden sind, müssen gemäss den Wirtschaftsverbänden keine Angst haben, leer auszugehen. Die Rekrutierungsphase sei noch nicht abgeschlossen, betonen Haas und Schurte unisono. Und es seien – wie in jedem Jahr – auch nach wie vor noch Ausbildungsplätze verfügbar. «Es liegt an uns, den Eltern nun zu vermitteln, dass bis im August problemlos Lehrverträge mit Start August 2020 abgeschlossen werden können», so Schurte.
Unbestritten komplizierter gestaltet sich die Situation aktuell für jene Schüler, denen der Schritt in die Berufsausbildung im Sommer 2021 bevorsteht. Gemäss Berufswahlfahrplan beginnt mit der achten Klasse jene Phase, in der die Jugendlichen ihre Optionen aufgezeigt erhalten und ein Gespür dafür entwickeln sollen, in welche Richtung sie sich nach der obligatorischen Schulzeit entwickeln möchten. Das Coronavirus hat dies zuletzt allerdings enorm erschwert. Wichtige Veranstaltungen wie die Berufscheck-Woche «mussten abgesagt werden», berichtet Kranz. Auch die sogenannten Schulhaussprechstunden hätten nur teilweise durchgeführt werden können. Vor allem aber fielen die Schnupperlehren, die Achtklässler üblicherweise ab März verstärkt absolvieren, um Einblicke in die Berufswelt zu erlangen, in den zurückliegenden Monaten fast komplett ins Wasser. «Die meisten LIHK-Betriebe durften überhaupt keinen externen Personen Zutritt gewähren, also auch keinen Schnupperlehrlingen», weiss Haas. Zwischen März und Mai, sagt auch Schurte, seien Schnupperlehren an den meisten Orten nicht möglich gewesen. «Am stärksten betroffen waren dabei sicher jene Branchen, die den Betrieb gänzlich einstellen mussten, zum Beispiel das Gastgewerbe, Friseure, der ganze Handel oder die Gesundheitsberufe.»
All das mag Verunsicherung schüren. Die Ausnahmesituation soll die Perspektiven der Jugendlichen letztlich aber auch hier nicht beeinträchtigen, wie die befragten Akteure mehrfach versichern. Stellvertretend die Aussage von Werner Kranz: «Insgesamt kann davon ausgegangen werden, dass (…) für die Schüler des 8. Schuljahres, über den ganzen Berufswahlprozess bis hin zum Sommer 2021 gesehen, kein wesentlicher Nachteil bei der Berufswahl entstehen sollte.» Dafür sorgen sollen diverse, bereits beschlossene Massnahmen. Laut Kranz haben die Berufsberater des ABB in Abstimmung mit den Klassenlehrern beispielsweise schon frühzeitig Kontakt zu den betroffenen Schülern aufgenommen, «um den aktuellen Stand betreffend die Berufswahl auf Sommer 2021 abzuholen und den weiteren Beratungsbedarf gemeinsam abzustimmen.» Dies vor allem, um die Absage der Berufscheck-Tage zu kompensieren. Ferner haben die Bildungsbehörden ABB und Schulamt gemeinsam mit den Wirtschaftsverbänden LIHK, Wirtschaftskammer, Bankenverband und Treuhandkammer entschieden, in diesen herausfordernden Zeiten die Kommunikation zu intensivieren. «Wir werden deshalb nach den Sommerferien damit beginnen, Elternabende an den Schulen abzuhalten, um gezielt auf Unklarheiten und Sorgen eingehen zu können», so Haas.
Eine weitere Massnahme besteht im Angebot des ABB an die Liechtensteiner Betriebe, Schnupperlehren, Tagespraktika und Infonachmittage fortan auf der Webplattform next-step.li anzukündigen. Das wiederum macht eines ganz deutlich – und wird von Haas denn auch entsprechend herausgestrichen: «Die Jugendlichen sollen trotz allem schnuppern können.» Der ganze Prozess habe sich lediglich nach hinten verschoben und werde sich in den nächsten Monaten entsprechend verdichten. «Womöglich», ergänzt Schurte, «werden aber auch mehr Schnupperlehren als üblich nötig sein, weil Veranstaltungen wie Berufscheck oder die Ostschweizer Bildungsausstellung ausgefallen sind.» Der Berufsbildungssektor, hält er fest, wisse um die speziellen Umstände. Und er möchte diesen Rechnung tragen. Doch wird die coronagebeutelte Wirtschaft 2021 tatsächlich genügend Lehrstellen für die heutigen Achtklässler im Angebot haben? Eine kürzlich publizierte Studie der Universität Bern malt die Zukunft diesbezüglich nicht eben in den buntesten Farben. Bis 2025, prognostizieren die Forscher darin, wird Corona den Abschluss von rund 20 000 Lehrverträgen vereitelt haben.
Bei den hiesigen Wirtschaftsverbänden ist man da zuversichtlicher. Womöglich werde sich der grosse Lehrstellenüberhang der zurückliegenden Jahre aufgrund der einen oder anderen Betriebsschliessung ein wenig verkleinern, sagt Haas zwar. Einen Rückgang im grösseren Stil kann sich die LIHK- Geschäftsführerin jedoch nicht vorstellen. «Die duale Berufsbildung ist die Zukunft der Unternehmen. Und sie ist ein Standortvorteil, den kein Betrieb aufgeben möchte.» Auch Ivan Schurte vermag dem von den Forschern in Aussicht gestellten Szenario wenig abgewinnen: «Ich bin ein Optimist und kann solchen Prognosen nicht folgen. Wir haben die Zukunft in der Hand – nicht eine Studie.» Zumindest kurzfristig, sprich für Sommer 2020, blieb die Coronakrise bezogen auf die Verfügbarkeit von Lehrstellen bislang fast folgenlos. «In Zeiten von Covid-19 wurde ein Lehrverhältnis aufgelöst, wobei gemeinsam eine rasche Anschlusslösung gefunden werden konnte», berichtet Kranz. Eine Garantie, dass es so weitergeht, gibt es freilich nicht, wie er betont: «Es ist derzeit für alle Beteiligten schwierig, abzuschätzen, welchen Effekt Corona auf die Entwicklung der künftigen Anzahl von der Wirtschaft zur Verfügung gestellten Arbeitsplätze haben wird.» Daher werde es eine zentrale Aufgabe der Verbundpartner der dualen Bildung sein, wachsam zu bleiben und gegebenenfalls geeignete Massnahmen zu ergreifen, um die Entwicklung positiv zu beeinflussen.